(Statement von Otto B. Ludorff, Vorsitzender des BKSB von 2001 – 2018).
Pflege im Kontext kommunaler Verantwortung
Im Jahre 2030 werden Studien zufolge 35% der Deutschen älter als 60 und von ihnen mehr als 6 Mio. über 80 Jahre alt sein. Die Zahl der Pflegebedürftigen wird auf 3,5 Mio. Menschen gestiegen sein. Deutschland ist neben Japan und Italien Weltspitze in puncto „Vergreisung“.
Das bestehende Pflegesystem, das auf Familienbetreuung, Teilkaskoversicherung, eine Kommerzialisierung der Anbieterstrukturen und weniger als ausreichend staatlichen Finanzierung beruht, wird 2030 endgültig kollabieren, wenn nicht spätestens jetzt gegengesteuert wird.
Der Staat ist als Planer komplett aus dem Spiel, die Pflege ist den Kräften des Marktes überlassen worden. Die Kommunen und ihre Sozialhilfeträger sind überschuldet. Kommerzielle Pflegeketten führen das Wort. Sie arbeiten alles andere als gemeinnützig, entscheiden aber bei allen Fragen mit, die das Gemeinwohl betreffen.
Hat die Politik diese Auswirkungen nicht bedacht?
Haben wir uns verkalkuliert?
Bis 1995 war die Pflege doch Sache der Kommunen, sie planten den Bedarf, organisierten gemeinsam mit der Wohlfahrt das Angebot und bekamen das Geld aus den Kassen der Länder und der Sozialhilfeträger.
Würden wir heute vor dem gleichen Scherbenhaufen stehen, wenn Norbert Blüm den Status Quo beibehalten und nicht dem Zeitgeist der 90er Jahre entsprechend die „Pflegeselbstverwaltung“ erfunden hätte? Diese Frage kann ich nicht beantworten.
Es ist aber eine Tatsache, dass die Privatisierungswelle öffentlicher Einrichtungen vor den Pflegeheimen in kommunaler Trägerschaft nicht Halt gemacht hat. Viele Häuser wurden insbesondere in den 90er und Nuller Jahren veräußert, zum Teil weit unter Preis. Das wachsende Versorgungsvolumen im Pflegebereich wurde damit insbesondere von privat-gewerblichen Trägern übernommen.
Während vor 20 Jahren öffentliche Träger in vielen Bundesländern mit Anteilen von über 15% vertreten waren, liegen die Anteile heute zwischen 5 und 7%. Im gleichen Zeitraum haben sich die Anteile privater Träger auf 48% nahezu verdoppelt, natürlich auch zulasten der freien Wohlfahrtspflege.
Angesichts dieser Entwicklung muss man gar nicht erst bis nach Skandinavien schauen, wo Altenhilfeleistungen zu 80% von öffentlichen, i.d.R. kommunalen Trägern erbracht werden, um zu erkennen, dass in Deutschland die viel gepriesene Trägervielfalt aus dem Ruder läuft.
Die Gründe sind naheliegend:
Ursache für Privatisierungsentscheidungen waren meist defizitäre Betriebsergebnisse und fehlende Möglichkeiten – oder soll ich sagen fehlende Bereitschaft –, rechtzeitig Mittel für Instandsetzung und Modernisierung durch den Träger bereit zu stellen. Kommunale Einrichtungen wurden als Unterabschnitt in städtischen Haushalten und/ oder als Teil des Sozialamtes geführt. Die Erträge wanderten häufig in den großen Topf der Kommune und dienten dem allgemeinen Haushaltsausgleich. Die Häuser wurden oft nur unter diesem Aspekt verwaltet und fristeten so viele Jahre ein Schattendasein, bis der Verkauf als einziger Ausweg erschien.
Dass es auch anders geht, belegen viele Beispiele kommunaler Träger, die rechtzeitig die Notwendigkeit einer modernen betriebswirtschaftlichen Steuerung erkannt haben.
Grundlegende Voraussetzung für ein prosperierendes Pflegeheim in kommunaler Trägerschaft ist eine weitgehende betriebswirtschaftliche Handlungsfreiheit. Hier ist die GmbH bzw. gemeinnützige GmbH als rechtlicher und organisatorischer Rahmen unübertroffen, wohlgemerkt mit einer Satzung, die der Geschäftsführung freie Hand gibt
Hinzu kommen wenige – aber bei richtiger Anwendung – sehr wirksame Steuerungsinstrumente aus dem Controlling wie kurzfristige Kennzahlen, belegungsabhängige Stellenpläne und quartalsmäßige Ergebnisberichte.
Einnahmensicherstellung ist entscheidend, u.a. durch regelmäßige erfolgreiche Pflegesatzverhandlungen und stringentes Forderungsmanagement. Nicht zuletzt gehören Risikomanagement und – ganz unverzichtbar – eine positive Unternehmenskommunikation nach innen und nach außen in den betriebswirtschaftlichen Baukasten.
All diese Instrumentarien sind Erfolgsfaktoren zur Sicherstellung der Wirtschaftlichkeit einer kommunalen Einrichtung. Denn kommunale Trägerschaft ist per se nicht unwirtschaftlich, wie uns vielleicht reine Marktwirtschaftler einreden wollen!
Und es gibt eine Reihe von Argumenten, warum ist es für eine Kommune insbesondere unter kommunal- und gesellschaftspolitischen Gründen wichtig ist, selbst Trägerin einer oder je nach Größe der Stadt mehrerer Pflegeeinrichtungen zu sein:
Das Pflegeversicherungsrecht hat den Kommunen im Rahmen der Daseinsvorsorge gemeinsam mit den Pflegekassen den gesetzlichen Auftrag zur Sicherstellung der pflegerischen Grundversorgung übertragen. Angesichts der eingangs skizzierten demografischen Entwicklung erscheint es für eine Kommune unter zukunftssichernden Aspekten regelrecht unverzichtbar, eigene Pflegeeinrichtungen zu betreiben. Denn mit einer eigenen oder zumindest mehrheitlich dominierten Pflegeeinrichtung erhält sich die Kommune die Sicherheit, auf die veränderten Rahmenbedingungen unter mehreren Aspekten unmittelbar Einfluss zu nehmen. Die Abhängigkeit bis hin zur Erpressbarkeit durch andere Träger wird vermieden.
Dies wird umso wichtiger, je mehr die Finanzierungsverantwortung auf die Kommune übertragen wird. Aufgrund neuer Personalbemessungen und höherer Personalkosten bei gleichzeitig gedeckelten Einnahmen der Pflegeversicherung ist heute schon absehbar, dass in Kürze bei steigenden Preisen noch mehr Pflegebedürftige finanziell überfordert sein werden und der Sozialhilfeträger bzw. die Kommune immer mehr in die Verantwortung genommen wird. Über eigene Einrichtungen kann die Kommune zur Stabilisierung der finanziellen Belastungen das Preis-Leistungsverhältnis unmittelbar beeinflussen.
Mit eigenen Einrichtungen erhält sich die Kommune zudem den Handlungsspielraum bei heimaufsichtsrechtlich notwendigen Betriebsschließungen und kann mit eigenem praktischen Know-how und mit eigenen Kapazitäten die Versorgung der betroffenen Bewohner sicherstellen.
Gleiches gilt auch bei Insolvenzen anderer Träger. In diesen Fällen kann sie das Management der eigenen Einrichtung nutzen und kurzfristig als Betreiber in die Bresche springen.
Unter dem Aspekt der Investitionsförderung durch kommunales Pflegewohngeld erfolgt schließlich ein Finanzrückfluß in das eigene Vermögen, der nicht unbeachtet bleiben sollte.
Die kommunale Einrichtung hat auch für Bewohner und Angehörige Einiges zu bieten:
Sie genießt bei den Einwohnerinnen und Einwohnern aufgrund ihrer weltanschaulichen Ungebundenheit ein besonderes Vertrauen. Eine zunehmende Zahl von Menschen ist konfessionell nicht mehr gebunden und wünscht sich auch im Alter, weltanschaulich neutral betreut zu werden, ohne über größere finanzielle Reserven zu verfügen.
Schließlich war es bisher oftmals kommunalen Heimen vorbehalten, Personen zu betreuen, die bei anderen Trägern nicht aufgenommen wurden.
Ein nicht unerheblicher Vorteil kommunaler Trägerschaft besteht natürlich auch darin, dass erwirtschaftete Überschüsse im Unternehmen bleiben und so unmittelbar zur Qualitätsverbesserung genutzt und nicht von privaten renditeorientierten Eigentümern abgezogen werden.
Schlussendlich haben kommunale Heime gegenüber den bundesweit oder sogar europaweit operierenden Trägerketten den Vorzug der örtlichen Verbundenheit. Innerhalb des jeweiligen Quartiers kann und sollte dem kommunalen Heim daher eine steuernde, koordinierende Funktion zukommen.
Für eine Gesamtbewertung kommunaler Trägerschaft ist die Sicht der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von erheblicher Bedeutung.
Zunächst möchte ich festhalten, dass der teilweise dramatische Fachkräftemangel in den Heimen dem gestiegenen Pflegebedarf und der gestiegenen Erwartungshaltung der Bewohner und Angehörigen in die Pflegequalität diametral entgegensteht. Und auch kommunale Träger haben Probleme mit fehlenden Fachkräften und unbesetzten Stellen, das ist unzweifelhaft richtig.
Kommunale Heime haben aus Sicht der Mitarbeiter ebenfalls Einiges zu bieten.
Im Bereich der Personalakquise ist ein klarer Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Trägern zu erkennen, der insbesondere durch zwei Faktoren zum Ausdruck kommt:
Da ist zunächst unser Tarifsystem bzw. das Gehalt, das wir bezahlen und noch vor wenigen Jahren eher als Nachteil einer kommunalen Trägerschaft galt.
Ein Einstiegsgehalt bis zu 3.400,- Euro ist eindeutig höher als der in den Medien oft zitierte Gesamtdurchschnitt über alle Träger in Deutschland. Wir sollten nicht aufhören, diese Fakten zu kommunizieren, u.a. auch die hohe Ausbildungsvergütung und die zusätzliche Altersversorgung, die ihresgleichen suchen.
Der zweite – eher weiche – Erfolgsfaktor betrifft das in der heutigen Zeit gestiegene Bedürfnis der Menschen und möglichen Mitarbeiter nach Verlässlichkeit und Vertrauen in einen „guten“ Arbeitgeber.
Kommunale Träger – nicht nur im Pflegebereich – können Sicherheit und Stabilität verkörpern. Insofern haben wir allen Grund, selbstbewusst aufzutreten und auch diesen Punkt verstärkt zu kommunizieren.
Es ist Zeit für eine neue Sicht auf die Pflege und das Pflegesystem.
Es ist Zeit für mehr Gemeinwohlorientierung, für Gemeinwohlbilanzen, vielleicht sogar für eine Strategie der Re-Kommunalisierung, wie es punktuell in anderen Bereichen, wie z.B. der Energieversorgung bereits geschieht.
Aus privater Sicht wird die Pflege mehr und mehr als Pflegeinvestmentmarkt gesehen. Obendrein sind Konsolidierungstendenzen, nämlich ein Trend zur Bildung von wenigen marktbeherrschenden Ketten zu beobachten. Die internationalen Akquisitionsaktivitäten der Investmentgesellschaften führen zu neuen Strukturen, und das auch im kommunalen, regionalen Markt.
Daher ist es an der Zeit, dass der Staat finanziell und rechtlich gegensteuert. Es geht um den erhöhten Kapitalbedarf der kommenden Jahre. Er betrifft nicht nur die laufende Sanierung der Einrichtungen, die Einzelzimmerquote und die Investitionen in das Personal, sondern auch Investitionen in ein angemessenes Wachstum und in Innovationen wie die Digitalisierung. Der Kapitalzugang wird zum Erfolgsfaktor. Die großen privat-gewerblichen Träger haben dies erkannt und generieren das benötigte Kapital zunehmend am Kapitalmarkt.
Bei kommunalen Trägern beschränkt sich die Finanzierung neben Eigen- und Fördermitteln in der Regel auf den Bankkredit. Dabei muss für alle Trägerschaften ein nachhaltiges Wirtschaften möglich sein.
Aus diesen Gründen sollte in der heutigen Zeit das Subsidiaritätsprinzip, welches in Gemeinnützigkeitsrecht und Gemeindeordnungen Eingang gefunden hat und der wirtschaftlichen Betätigung öffentlicher Träger enge Grenzen setzt, kritisch hinterfragt werden. Die Chancen-Gleichheit kommunaler Senioreneinrichtungen muss hergestellt werden.
Ich bin optimistisch:
Welche Eingriffe die Pflegeversicherung in den nächsten Jahren auch erleiden wird, die Bedeutung der Kommunen als Kosten-, aber eben auch als Leistungsträger wird wieder wachsen. Und es wird eine Herausbildung besonderer Bedarfsgruppen geben (Personen mit Niedrigeinkommen, Migranten, besondere Krankheitsbilder), deren Einbettung in die kommunale Daseinsvorsorge besonders wichtig wird.
Einige unserer europäischen Nachbarn haben diese Entwicklung bereits aufgegriffen:
In Norwegen hat selbst eine eher rechtsgerichtete Regierung Pflege als „Neue kommunale Pflichtaufgabe“ definiert.
In den Niederlanden wurde 2015 trotz eines bestehenden „Quasi-Monopols“ der kirchlichen Träger neben der Einführung einer Pflegevollversicherung eine weitreichende kommunale Verantwortung geschaffen, nämlich die Kommune als zentrale Steuerungsinstanz für sämtliche Unterstützungsleistungen im Quartier.
Und selbst in der Schweiz übernimmt der Staat trotz eines noch überwiegend privaten Pflegesystems immer mehr finanzielle Verantwortung und investiert statt 1% wie in Deutschland gut 1,8% des Bruttoinlandsproduktes in die Pflege.
Der Staat und die Kommunen werden auch in Deutschland – da bin ich mir sicher – nach und nach erkennen, dass sie sich des Themas Pflegebedürftigkeit ganzheitlich im Kontext sozialer, gesundheitlicher und wirtschaftlicher Daseinsvorsorge wieder annehmen müssen.
Letztendlich gilt:
Eine hoch entwickelte öffentliche Infrastruktur der Pflege kann einen hohen gesellschaftlichen Nutzen stiften. Das ist unser Anspruch und unser Ziel.
Die Kommunalen.
Otto B. Ludorff, Vorsitzender des BKSB
im Juni 2018